Dienstag, 12. Oktober 2010

Zwangsarbeit oder Bürgerpflicht?

Vor einigen Monaten sagte der Verteidigungsminister über die Wehrpflicht: „Faktisch wird sie in zehn Jahren wohl abgeschafft sein.“ Es war nicht der österreichische Minister, der dies prophezeite, sondern sein deutscher Kollege. Die Wogen dieser Diskussion sind jedoch über die Grenzen geschwappt. Wir befinden uns mitten in einer Neuauflage der Debatte um die Wehrpflicht. Einfacher ist die Entscheidung für oder wider die Wehrpflicht nicht geworden. Im Gegenteil: mit der Einführung des Zivildienstes (1974) und dessen steigender Beliebtheit wird sie komplexer. Jeder dritte Wehrpflichtige entscheidet sich für den Zivildienst. Derzeit leisten ihn 13.100 Männer - mehr als doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Der als siamesischer Zwilling der Wehrpflicht konzipierte Zivildienst hat sich im Bewusstsein der Österreicher verselbständigt und ist zu einer tragenden Säule unseres Sozialsystems geworden.

Wird die Wehrpflicht (und damit der Zivildienst) abgeschafft, hat das nicht nur Auswirkungen auf die Landesverteidigung, sondern auch auf unser Sozialsystem. Was wären die Alternativen zum Zivildienst?
Ersatzloses Abschaffen? Damit fielen sämtliche von „Zivis“ erbrachten Leistungen weg. Es ist unrealistisch, dass die Politik einen derart radikalen Einschnitt in unser Sozialsystem wagt.
Ersatz durch berufliches Personal? Würde man die Leistungen, die von den 13.100 „Zivis“ erbracht werden, zu marktüblichen Preisen bewerten, käme man auf 325 Millionen Euro. Ergo: das System würde sich erheblich verteuern.
Ersatz durch Freiwillige? Derzeit leisten rund 450 junge Menschen ein „freiwilliges soziales Jahr“. Selbst wenn dieses Engagement attraktiviert würde – z.B. mit Anrechenbarkeiten für Studium und Berufsausbildungen -, könnten dadurch kaum alle Zivildiener ersetzt werden.
Verpflichtender Sozialdienst? Ob diese Idee der Europäischen Menschenrechtskonvention widerspricht, ist umstritten. Dort ist zwar ausdrücklich „Zwangsarbeit“ verboten – allerdings mit Ausnahmen, darunter die Wehrpflicht oder so genannte „normale Bürgerpflichten“. Ist es nicht eine veritable Bürgerpflicht, sich um Menschen zu kümmern, die auf Hilfe angewiesen sind? Unsere Lebenserwartung erhöht sich jährlich um drei Monate. Da ist es doch zumutbar, einen geringen Teil dieser „gewonnenen“ Zeit der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Von den angenommenen 700.000 Stunden ihres Lebens würden junge Menschen rund 2.000 Stunden für einen Sozialdienst aufwenden. Das sind 0,3 Prozent. Dass Frauen derzeit schon mehr Betreuungspflichten (z.B. Kinder, Haushalt) auf sich nehmen, ist bekannt. Dieses Missverhältnis zu entschärfen ist eine Herausforderung unserer Gesellschaft – genauso wie die Weiterführung jener Leistungen, die derzeit von Zivildienern für alte, kranke und behinderte Menschen erbracht werden.
Quelle: Gastkommentar von Dr. Werner Kerschbaum in der Wiener Zeitung