Montag, 22. November 2010

Am Führerstand

Lesenswert: Andreas Riedel spricht mit einem Triebfahrzeugführer und Feuerwehrmann über dessen Beruf und die Gefahren des Eisenbahnverkehrs

Österreich: Jahr für Jahr kommt es auf Österreichs Bahnübergängen zu schweren Unfällen. Extrembelastungen für Verunfallte, Feuerwehren und Lokführer sind die Folge. Fireworld.at beleuchtet die andere Seite – und sprach mit einem Lokführer darüber.

Insgesamt ereigneten sich im vergangenen Jahr (2009) 108 Unfälle auf Bahnübergängen im Netz der ÖBB, davon 35 an Bahnübergängen, welche mit technischen Einrichtungen gesichert sind (Vollschranken-, Halbschranken- und /oder Lichtzeichenanlagen). Bei diesen Unfällen wurden 21 Personen verletzt und zwölf getötet.

So gut wie alle Unfälle an Eisenbahnkreuzungen werden von Autofahrern verursacht, welche Stopptafeln, Lichtzeichenanlagen oder einfach die grundlegenden Regeln des Straßenverkehrs nicht beachten.

Einer Aussendung des Autofahrerclubs ÖAMTC zufolge, passieren zwei Drittel der Unfälle an Bahnübergangen ohne technische Sicherheitseinrichtungen, 27 % an Übergängen, welche mit Lichtzeichen gesichert sind und 10 % an Übergängen mit Schrankenlagen. Laut Kuratorium für Verkehrssicherheit kann die Errichtung einer Lichtzeichenanlage an einer technisch ungesicherten Eisenbahnkreuzung das Unfallrisiko bereits halbieren!

Risiko „Betriebsblindheit“

Auffällig ist, dass oftmals Fahrzeuglenker in Unfälle an Eisenbahnkreuzungen verwickelt sind, die in der Nähe einer solchen leben oder diese mehrfach queren müssen. Viele sind der Meinung, den Fahrplan der Züge ohnehin zu kennen und daher unvorsichtiger.

Erschreckendes zeigte eine in Deutschland durchgeführte Studie, wonach viele –vor allem Jugendliche- Autofahrer bereit sind, Halbschranken zu umfahren und so das Risiko eines Zusammenstoßes mit einem Schienenfahrzeug in Kauf nehmen.

Weg bis zum Stillstand wird unterschätzt

Stellen wir nun einen einfachen Vergleich an: Fährt man 100 km/h mit dem Auto, wird man bei einer Vollbremsung in etwa 130 Meter bis zum Stillstand brauchen. Ganz anders sieht die Sache bei einem Zug aus: Dieser kann, je nach Länge und dem daraus resultierenden Gewicht bzw. der Geschwindigkeit, bis zu einen Kilometer brauchen, um bei einer Vollbremsung zum Stillstand zu kommen.

In den Medien wird klarerweise und völlig zu Recht über das Leid von Betroffenen und die Einsätze der Feuerwehren in so einem Fall berichtet.

Fireworld.at hat das Thema mit einem Lokführer besprochen
Bernhard ist Lokführer, ein Eisenbahner mit Leib und Seele. „Das ist mein absoluter Traumberuf, das wollte ich als Kind schon werden“, erzählt er mit glänzenden Augen und strahlendem Lächeln. Wir treffen uns kurz vor Beginn einer seiner längeren Touren von Wien in den Westen Österreichs und erläutern das Thema „Eisenbahnkreuzung“ von der anderen Seite, nämlich aus Sicht des Lokführers. Gleich zu Beginn meint er, ich solle alles vergessen, was ich bisher über diesen Beruf gehört habe: Und werde sofort mit knallharten Fakten konfrontiert. Auch zum Thema Bahnübergänge. Nach einer vorsichtigen Frage vergesse ich auch gleich wieder, dass er in der ersten Reihe doch ohnehin alles sehen muss und, wie mit dem Auto, auf Sicht fährt: „Stimmt so nicht!“, werde ich sofort eines Besseren belehrt.

„Streckenfreigabe und teilweise auch die erlaubte Geschwindigkeit, zum Beispiel im Bahnhofsbereich, wird mir mittels Signalen angezeigt“, erzählt mir Bernhard, der nebenbei auch freiwilliger Feuerwehrmann ist. „Wenn ich mit einem mehrere hundert Tonnen schweren Zug fahre, habe ich nur wenige Sekunden Zeit um Gefahren zu erkennen und eine Schnellbremsung einzuleiten. Nach Auslösung der Schnellbremsung bin auch ich nur mehr Passagier und kann nur hoffen, dass es sich ausgeht und mein Zug rechtzeitig zum Stillstand kommt! 
Wenn ich das Hindernis sehe, ist es aber meist ohnehin schon zu spät. Güterzüge beispielsweise haben in etwa einen Bremsweg zwischen 800 und 1000 Metern, je nach Tonnage.“

Er drückt mir ein gelbes Buch in die Hand, auf dem in großen Lettern der Schriftzug „Buchfahrplan“ abgedruckt ist.
„Dieser Buchfahrplan liegt bei jeder Fahrt in der Lok vor mir und zeigt mir die Kilometrierung der Strecke, Fahrzeiten, die erlaubte Geschwindigkeit und Geschwindigkeitsvorankündigungen im Streckenabschnitt an. Er ist quasi mein zweiter Blick und Informationsgeber während der Fahrt“, wird mir erzählt.

Neugierig blättere ich in diesem Buch, kenne mich zugegeben nicht wirklich darin aus, erkenne aber plausibel, dass es bei so mancher in diesem Buchfahrplan angegebenen Geschwindigkeit eine Ewigkeit dauern muss, bis der hunderte Tonnen schwere Zug zum Stillstand kommt. Ich suche in dem Buch nach dem Vermerk „Bahnübergang“, oder „Eisenbahnkreuzung“, wie es im Eisenbahner-Jargon heißt. „Da wirst du nichts darüber finden“, meint Bernhard daraufhin, „als Lokführer verfüge ich über Streckenkenntnis und kenne alle Besonderheiten, auch Bahnübergänge, auswendig!“ Er erklärt mir, dass er nicht einfach drauf los fahren kann, sondern auf jeder Strecke, die in sein Einsatzgebiet fällt, eine spezielle Schulung durch einen Lehrführer (eine Art Fahrlehrer auf Schienen, Anm.) bekommt.

Eine Frage beschäftigt mich trotzdem weiterhin:

Woher weiß das Buch, wenn die technische Einrichtung eines Bahnübergangs defekt sein sollte?
„Sind Sicherungsanlagen länger außer Betrieb, zum Beispiel wegen Bauarbeiten, kommen Anweisungen in Form eines weiteren Heftes, einer sogenannten „Langsamfahranordnung“, das ich mir vor Dienstbeginn zur Vorinformation ansehen kann, jedoch spätestens während der Fahrt neben dem Buchfahrplan aufgeschlagen sein muss“, erläutert Bernhard die Aufgabe dieses zusätzlichen Hefts.

Sollte die Anlage kurzfristig ausfallen, wird der Lokführer über Funk verständigt und bekommt einen sogenannten Sammelbefehl (bei unbesetzten Bahnhöfen) oder in besetzten Bahnhöfen vom Fahrdienstleiter einen schriftlichen „V(orsichts-)Befehl“, in welchem sinngemäß geschrieben steht, dass er vor der Eisenbahnkreuzung anzuhalten hat. „Nach Abgabe des Signals „Achtung!“ („Hupen“) darf ich den Zug in Bewegung setzen und die Eisenbahnkreuzung überquert werden“, erläutert der Triebfahrzeugführer die Vorschriften und Vorgänge, die er zu beachten hat.

Was aber passiert, wenn dann doch einmal etwas passiert?
„Über den Zugfunk kann ich Kontakt mit dem Zugdisponent aufnehmen, der den Verkehr in einem bestimmten Abschnitt überwacht. Zu dieser Stelle kann ich mich sofort und ohne warten zu müssen durchschalten lassen und (außer-)betriebliche Ereignisse melden. Von dort wird dann die weitere Alarmierung von Feuerwehr, Rettung oder Polizei vorgenommen. Grundsätzlich gilt jedoch, dass der erste Ansprechpartner für Einsatzkräfte der örtlich zuständige Fahrdienstleiter ist.“

Triebfahrzeugführern ist es in der Regel nach Unfällen mit Personenschaden nicht mehr gestattet, den Zug weiter zu führen. Aus psychologischen Gründen, die völlig verständlich sind. „Das Risiko, durch den Vorfall auf der weiteren Fahrt abgelenkt und gedanklich woanders zu sein, sei zu hoch“, erfahre ich. Psychologische Betreuung ist hier enorm wichtig und wird in erster Linie durch die firmeninternen Laienhelfer (ehemalige Lokführer, Instruktoren, etc.) angeboten, um das Erlebte verarbeiten zu können. Weiters kann auch das KIT des Roten Kreuzes in Anspruch genommen werden. Bei diesem Thema werden auch Bernhards Gesichtszüge etwas ernster, als er sich daran erinnert, als ein Lieferwagen zwischen zwei Vollschranken eingeschlossen war, er mit seinem Zug mit 100 km/h fuhr und nach einem Rechtsbogen das Fahrzeug plötzlich in 500 Meter Entfernung vor ihm auftauchte. „Aufgrund des Umstandes, dass diese Eisenbahnkreuzung vier-gleisig und somit genügend Platz für den Lieferwagen war, ließ sich der Zusammenstoß um Haaresbreite verhindern“, berichtet er. Dabei hätte der Lieferwagenlenker einfach hinausfahren können, da Vollschranken über eine Sollbruchstelle verfügen, erläutert er weiters.

Als ich ihn auf seinen heutigen Auftrag, einen Güterzug gen Westen zu bringen anspreche, ist die ernste Miene verflogen und ein breites Grinsen aufgesetzt: „Die Pferde sind gesattelt, der Kaffee angenehm temperiert, Vorbereitungsarbeiten sind zu treffen, dann kann‘s in Kürze losgehen!“

Ich möchte noch etwas sagen, komme aber nicht dazu: „Jetzt nicht!“, sagt er harsch und vertieft sich im Lokführer-Aufenthaltsraum in seinen Unterlagen und relevanten Informationen zur kommenden Fahrt. Unter Umständen steht ja auch in der heutigen Langsamfahranordnung vermerkt, dass er bei einem bestimmten Bahnübergang besonders aufpassen muss. Da möchte ich ihn keinesfalls stören. Das ist sein Beitrag als Lokführer dazu, Bahnübergänge noch sicherer zu machen, soweit es eben für ihn in dieser Position möglich ist.
Als er fertig ist mit seinen Unterlagen, macht er seinem Ärger richtig Luft: „Viele kapieren das gar nicht, dass ich nicht einfach von jetzt auf gleich stehen bleiben kann wie mit einem Pkw und rennen vor mir über das Gleis oder fahren wenige Meter, bevor ich mit 100 km/h oder schneller daher komme, noch mit dem Auto über den Bahnübergang!“ erzählt er und setzt nach: „Die Leute haben keine Ahnung, was in mir als Lokführer in diesen wenigen Sekunden vorgeht, wenn plötzlich ein Auto oder ein Mensch vor mir steht und ich nicht weiß, ob sich das noch ausgeht oder nicht!..oder noch schlimmer: Wenn so etwas absichtlich gemacht wird!“ Im Endeffekt bleiben alle über: Die Unfallopfer, deren Angehörige, Einsatzkräfte und der Lokführer.

Ich überlege lange, ob ich das fragen soll, ringe mich dann aber doch dazu durch: Ob er schon einmal während des Dienstes einen Unfall an einem Bahnübergang oder einen Selbstmörder vor sich hatte, will ich von ihm wissen. „Nein“, sagt er „aber Kinder, die vor mir auf die Gleise gerannt sind. Das Zusammenspiel zwischen jungen, schnellen, Kinderbeinen, schneller Reaktion und Einleitung einer Schnellbremsung haben schlimmeres verhindert, aber vergessen werde ich das nie!“, meint er nachdenklich. Voller Anspannung und nervenaufreibend sei der Job manchmal, erzählt er weiter. Mitbekommen tun das freilich nur die Wenigsten, als Lokführer sitzt er im Normalfall ja alleine in der ersten Reihe. Trotzdem bleibt er dabei: Es ist sein Traumberuf.

Nachdem er seine Unterlagen studiert hat, verabschieden wir uns voneinander. Ich mit meinem kleinen 110 PS Kombi, er mit einer 10.000 PS starken „Taurus“, die oft auch „roter Ochs‘“ genannt wird. Er wird heute noch einen Güterzug mit knapp 500 Metern Länge, einem Gesamtgewicht von rund 1980 Tonnen und einem Bremsweg zwischen 800 und 1000 Metern Richtung Westen bringen. Hochkonzentriert, vorbei an vielen Bahnsteigen („die Leute stehen oft so knapp an der Kante zum Gleis“, sagt er) und vielen Bahnübergängen: Ohne Unfall, ohne Personenschaden, ohne Feuerwehreinsatz – hoffentlich, denn: Schnell kann’s gehen!
Quelle: Andreas Riedl / Fireworld