Dienstag, 28. Dezember 2010

Folgen: Schwer

Reutlingen (D). Rettungsassistent entschied, eine 84-jährige Frau nicht zu reanimieren. Wegen unterlassener Hilfeleistung stand er nun vor Gericht.

"Da machen wir nichts mehr, es bringt nichts mehr" - ein Satz mit schweren Folgen für einen 54-jährigen Rettungsassistenten. Seine Entscheidung, eine 84-jährige Frau nicht mehr zu reanimieren, kostete ihn nicht nur seine Arbeitsstelle, er darf auch nicht mehr als Rettungsassistent arbeiten. Vor dem Amtsgericht musste er sich jetzt wegen unterlassener Hilfeleistung verantworten."Wir gehen nicht davon aus, dass die Frau hätte gerettet werden können", betonte Richter Steve Schulze. Doch die Entscheidung nicht zu reanimieren hätte der Notarzt treffen müssen.
Am 28. November vergangenen Jahres wurde der Angeklagte mit seinem Auszubildenden nachts von einem Hausnotruf alarmiert. Eine 84-Jährige habe Probleme mit der Atmung, hieß es von Seiten der Leitstelle. Reglos habe er die Frau im Bett im Schlafzimmer aufgefunden, sagte der Angeklagte aus. Er habe einen Bodycheck und ein EKG gemacht, den Puls gemessen und die Pupillen überprüft, erklärte er. Außerdem habe sie blaue Finger gehabt, eine Tatsache, die aber erst vor Gericht zur Sprache kam. Für den Angeklagten wies die Frau genügend Todesanzeichen auf, um nicht mehr zu reanimieren. "Das sind alles unsichere Todesanzeichen, da ist der Rettungsassistent verpflichtet", war Schulze anderer Auffassung. Verteidiger Boris Haigis verwies zudem auf die angezeigte Nulllinie. "Das ändert nichts, da sie nicht wissen, wann die Nulllinie eingetreten ist", widersprach Staatsanwältin Tatjana Grgic. Ob das etwa bedeuten solle, nichts mehr zu tun, wenn die Nulllinie eingetreten sei? "Ist das die logische Konsequenz?", fragte Grgic nach.

Dass die Frau selbst angerufen habe, dass will der Angeklagte erst erfahren haben, als er bereits entschieden hatte, sie nicht wiederzubeleben. Denn erst da habe sein Kollege das erwähnt. "Aus medizinischer Sicht wäre dies relevant gewesen", räumte der Mann ein. "Sie haben die Entscheidung vorher nicht auf der Basis voller Erkenntnis getroffen", stellte Schulze fest. Spätestens als er erfahren habe, dass die Frau den Notruf selbst abgesetzt habe, hätte er reagieren müssen.

Vor Gericht zeigte sich der Angeklagte sehr betroffen. Wegen des Vorfalls befand er sich bereits in psychotherapeutischer Behandlung, ist jetzt nur noch als Fahrer für das Deutsche Rote Kreuz unterwegs. "Dass Sie das mitnimmt, ist völlig klar", zeigte Schulze Mitgefühl.

"Wir haben deutlich heraus hören und sehen können, wie stark es den Angeklagten mitnimmt", sagte Grgic in ihrem Plädoyer. "Von jetzt auf nachher ist das ganze Leben zusammen gebrochen", sah sie die starke Belastung für den Angeklagten, zumal er mit dem moralischen Aspekt weiterhin zu kämpfen habe. Sie forderte in Anbetracht der Umstände eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu 30 Euro. Auch der Verteidiger hob auf die derzeitige Situation ab. Sein Mandant habe Buße getan und die Geschichte tue ihm unendlich leid. Haigis hielt 25 Euro pro Tagessatz für angemessen.

Richter Schulze entsprach der Forderung der Staatsanwältin, blieb somit unterhalb der Grenze zur Vorstrafe. "Sie haben schon gebüßt", das sah auch Schulze. "Sie bewegen sich in diesem Job permanent auf der Grenze der juristischen Strafbarkeit." Die Frage, ob die Entscheidung richtig oder falsch gewesen sei, könne juristisch eindeutig mit falsch beantwortet werden, sagte Schulze in seiner Urteilsbegründung. Die ethische Entscheidung hätte er aber nicht treffen dürfen.