Mittwoch, 6. November 2013

Denry Dunants visionäres Erbe

Die pragmatischen Idealisten vom Roten Kreuz

150 Jahre nach seiner Gründung hat sich das IKRK zu einer hochprofessionellen und weltumspannenden Organisation entwickelt. Das Schutzmandat der Genfer Organisation gründet auf dem Widerspruch zwischen Weltverbesserung und Krieg.
von Martin Woker/NZZ

In unserer von Brands dominierten Welt rangiert das rote Kreuz weit oben auf der Rangliste global bekannter Embleme. Als sich vor 150 Jahren, zwischen dem 26. und 29. Oktober 1863, die Vertreter von 16 Staaten in Genf einfanden, hatte Henry Dunant als Initiant der Konferenz deren Resultat vorgespurt. In seinem aufsehenerregenden Bericht «Erinnerung an Solferino» hatte der Genfer Kaufmann das Leiden der Verwundeten auf dem Schlachtfeld derart eindringlich geschildert, dass sich die europäische Öffentlichkeit vier Jahre nach der Schlächterei zwischen den Truppen Österreichs und denjenigen Frankreichs sowie Piemont-Sardiniens zum Handeln veranlasst sah.

Eine ungeheuerliche Idee

Unter dem Vorsitz des Genfer Juristen Gustave Moynier hatte sich am 17. Februar 1863 ein im Genfer Bürgertum rekrutiertes «Internationales Komitee der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege» konstituiert, als dessen Sekretär Dunant waltete. Zum Missfallen des Pragmatikers Moynier entwickelte Dunant eine Eigeninitiative,
welche die Resultate der Konferenz im Oktober vorwegnahm. Dem Idealisten Dunant war das Ungeheuerliche gelungen, die Neutralisierung der medizinischen Hilfskräfte im Kriegsfall durchzusetzen. Wer nicht länger zum Kämpfen in der Lage ist, soll Schutz beanspruchen können. Zur Durchsetzung der neuen Regel sollten die Helfer auf dem Schlachtfeld zu ihrem Schutz mit einem Emblem gezeichnet sein, ebenso Ambulanzen und Spitäler. Am 22. August 1864 lud der Bundesrat zwölf Staaten zur Unterzeichnung der ersten Genfer Konvention. Als Schutz-Emblem für Verwundete und Hilfspersonal einigte man sich auf die Umkehrung des Wappens der Eidgenossenschaft: ein rotes Kreuz auf weissem Grund.

Die interne Spannung im Hilfskomitee zwischen Dunant und Moynier ist beispielhaft für die Entwicklung der Hilfsorganisation und zieht sich als roter Faden durch deren Geschichte. Dass ein Genfer Geschäftsmann, der später als Bankrotteur vom Bürgertum fallengelassen und in Heiden ob dem Bodensee vereinsamte, eine humanitäre Regulierung der Kriegsführung international zu lancieren vermochte, ist typisch für ein Land, das Visionären grundsätzlich misstraut. Ausschlaggebend für das von Dunant so eindringlich geschilderte Elend in Solferino war die Industrialisierung des Kriegswesens. Aus Euphorie über die gestiegene Effizienz des Tötens hatten die Militärs dessen Folgen unterschätzt. Von der neuen Rotkreuz-Idee wurden sie überrumpelt: Ein Feind ist nicht länger ein Feind, wenn er zum Kämpfen nicht mehr in der Lage ist. Da gerieten Kriegszweck und Weltverbesserung in Widerspruch.
Industrie der Hilfeleistung

In ihrem Kern hat sich die Botschaft in den vergangenen 150 Jahren nicht verändert. Das enorme Leiden der Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkriegs hatte zur Folge, die inzwischen vier Genfer Konventionen um zwei Zusatzprotokolle zu erweitern. Über die Anwendung wacht das IKRK als Gründerorganisation der Bewegung, Basis bilden die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften. Deren Dachorganisation, die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften, koordiniert Hilfe im Falle von Naturkatastrophen. Das IKRK entsendet seine Delegierten in Kriegs- und Krisengebiete, wo neben der medizinischen Hilfe der Besuch von Kriegsgefangenen und der Schutz von Zivilisten zu den Hauptaufgaben zählen.

Einen enormen Wachstumsschub erfuhr die Genfer Organisation zu Beginn der achtziger Jahre, als nach dem Zusammenbruch des Regimes der Roten Khmer Hunderttausende von Flüchtlingen entlang der thailändisch-kambodschanischen Grenze Schutz und Nothilfe brauchten. Das IKRK übernahm die Koordination dieser Operation. Diese Hilfeleistung sorgte für weltweite Anteilnahme. Eine der Begleiterscheinungen war die Gründung zahlreicher Nichtregierungsorganisationen, die seither in Kriegsgebieten rund um die Welt aktiv sind. Die Zeit der Hilfswerk-Industrie hatte begonnen. Es genügte nicht länger, mit noblem Vorsatz und einem Mandat im Gepäck in ferne Kriegsgebiet zu reisen, um dort im Geiste Dunants zu wirken.

Dass dem so ist, war auch am Genfer Hauptsitz an der Avenue de la Paix erkannt worden. Speziell in Asien, wo sich damals die Stellvertreterkonflikte des Kalten Kriegs massierten, verfügte das IKRK über keinen guten Leistungsausweis. Im Vietnamkrieg war die Organisation den Beweis neutraler Hilfeleistung schuldig geblieben, was die moskautreuen Kräfte sehr genau registriert hatten. Die Gelegenheit zum Widerlegen des auf der Institution lastenden Vorwurfs der Amerikafreundlichkeit bot sich in andern Stellvertreterkriegen in Afrika, etwa in Äthiopien, wo das IKRK erstmals in grossem Umfang Nahrungsmittel an Konfliktopfer verteilte. Mit dem neuen Operationsfeld stiegen die Ausgaben und die Anzahl der Beschäftigten sprunghaft an.

Ein folgenreiches Verbot

Ob dem jähen Wachstum platzte der Genfer Hauptsitz aus allen Nähten. Es änderte sich auch die Rekrutierungspraxis für Delegierte, die in Ermangelung von Bewerbern aus der Romandie vermehrt auch aus der Deutschschweiz stammten. Ein damals vielbeachteter kritischer Erlebnisbericht eines ehemaligen Delegierten (Dres Balmer: «Kupferstunde») rückte einer hiesigen Öffentlichkeit die Genfer Organisation erstmals ins Blickfeld. Pikanterweise nicht wegen ihrer guten Taten, sondern weil die Publikation des Buches verboten wurde. Die Massnahme, angeordnet von pragmatischen Puristen am Hauptsitz, machte in Genf die Notwendigkeit von Öffentlichkeitsarbeit deutlich.

Es war zu wenig bekannt, dass Menschenrechtsorganisationen und das IKRK oft ähnliche Ziele verfolgen, doch mit unterschiedlichen Mitteln. Während Amnesty bessere Haftbedingungen für politische Gefangene mit öffentlichem Druck zu erreichen versucht, ist das IKRK bei Gefängnisbesuchen zu Diskretion verpflichtet. Wie die Zustände in Kerkern zu verbessern sind, wird den Behörden in vertraulichen Berichten unterbreitet. Die der humanitären Diplomatie auferlegte Diskretion wie auch die Zusammenarbeit mit örtlichen Rotkreuzgesellschaften lassen das IKRK periodisch zur Zielscheibe von Kritik werden. Besonders in autoritär regierten Staaten, wo das IKRK meist aktiv ist, stehen die nationalen Gesellschaften oft im Dienste der kriegführenden Regierungen. Nicht selten sind es Gattinnen von Kriegsherren oder Diktatoren, die lokale Rotkreuzorganisationen präsidieren. Unter solchen Umständen neutrale Hilfe zu leisten, erfordert diplomatische Höchstleistung. Das IKRK hat sie oft erbracht. Etwa in Libanon, wo das örtliche rote Kreuz während des Bürgerkriegs als multikonfessionelle Bewegung im ganzen Land aktiv war. In Südafrika, wo das IKRK während der Apartheid trotz Widerstand der Buren in den Townships die Rotkreuzbewegung verankerte, oder jetzt in Syrien.

Einseitige Finanzierung

Während Entwicklungsorganisationen nach getaner Arbeit neue Schulhäuser, Krankenstationen und andere Infrastruktur hinterlassen, nehmen sich die Resultate der IKRK-Arbeit weniger eindrücklich aus. Die Bedeutung von Gefangenenbesuchen ist medial ebenso schwer vermittelbar wie die Zusammenführung von im Krieg auseinandergerissenen Familien, die Aufbereitung von Trinkwasser für Vertriebene oder die diskrete Vermittlung zwischen Kriegsgegnern. Es ist für die Genfer Organisation überlebenswichtig, hauptsächlich aus staatlichen Geldquellen alimentiert zu werden. Im laufenden Jahr hat die Organisation für ihren Feldeinsatz knapp über eine Milliarde Franken budgetiert, davon entfallen auf die Operation in Syrien 150 Millionen. Im Vorjahr waren die USA einmal mehr mit Abstand wichtigster Geldgeber, es folgten die Schweiz und die Europäische Kommission. Unter den übrigen 17 potentesten Donatoren rangieren neben Kanada, Japan und Australien ausschliesslich westeuropäische Staaten.

Die einseitige Verteilung der Geldgeber, besonders die Abseitspositionen Chinas, Russlands, der Golfstaaten und lateinamerikanischer Länder, bereitet den Verantwortlichen in Genf seit Jahren Sorgen. Acht der zehn teuersten Operationen finden in Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung statt. Dass die Delegierten in Jemen, Somalia, Afghanistan und im Irak überhaupt operationell sind, fusst auch auf dem Vertrauen, das ihnen von hartgesottenen Jihadisten entgegengebracht wird. Einige von ihnen kennen die Organisation bestens aus jenen Zeiten, da sie einst als Insassen im amerikanischen Gefangenenlager Guantánamo und anderswo von Delegierten besucht wurden. Sie haben am eigenen Leib erfahren, dass die Genfer Organisation unter dem Schutz des Kreuzes eine Art von Hilfe leistet, die im Kriegsfall Gläubigen und Ungläubigen gleichermassen zugute kommt – 150 Jahre nach der Lancierung dieser ungeheuerlichen Idee.
Quelle: www.nzz.ch

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